Was ist Bildung?

von Ramateertha Doetsch, Arzt, Therapeut und Meditationslehrer

Inspiriert durch eine Festrede, die Dr. Peter Bieri, Professor für zeitgenössische Philosophie, im Jahr 2005 an der PH Bern gehalten hat, geht dieser Artikel der oben genannten Frage auf den Grund. Es werden einzelnen Punkte formuliert, wobei jeder für sich wie ein Mosaikstein seine eigene Farbe und Leuchtkraft hat. Als Ganzes gesehen bilden sie ein Gemälde, auf das man sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen schauen sollte, um sich von ihm inspirieren zu lassen:

Bildung wird verstanden als

  • der Wille zu lernen: Es ist die Bereitschaft mehr zu erfahren über sich selbst, den anderen und die Weil als Ganzes. Dazu gehört ein erseits Wissen aber auch die Bereitschaft, sich auf Erfahrungen einzulassen, die über mein bisheriges „Wissen“ hinaus gehen. Dies führt zu neuen Erkenntnissen und zu einem entsprechenden Handeln.
  • Aufklärung: Sie stellt die Frage: Was weiß und verstehe ich wirklich? Sie hinterfragt kritisch bisher Gehörtes und Übernommenes. Sie überprüft Quellen und Belege von Überzeugungen und Urteilen. Sie hinterfragt moralische Gebote und Verbote, Vorstellungen von Gut und Böse, von Richtig und Falsch.
  • Toleranz: Sie beschreibt nicht nur das Dulden des Fremden, sondern stellt echten uns selbstverständlichen Respekt vor der Freiheit des anderen, anders zu denken und zu empfinden, dar. Im selben Sinne beschreibt Toleranz aber auch die Freiheit, eigene Wahlmöglichkeiten — über das vom „Schicksal“ gegebene Weltbild hinaus — zu finden und zu ergreifen.
  • Selbsterkenntnis: Das bedeutet, dass ich nicht einfach bestimmte Dinge glaube, wünsche und fühle, sondern hinterfrage, woher sie kommen und auf welchen Gefühlen sie beruhen. Die Antworten, die ich finde, öffnen einen Raum, der Selbstverständliches und Selbstbilder infrage stellt. Er liefert mich der Frage aus, wer ich wirklich bin und was ich wirklich will.
  • Selbstbestimmung: In dem Maße, wie ich mich von festen Selbstbildnissen löse, kann ich lernen, dass Gedanken, Gefühle und Wünsche einem ständigen Fluss unterliegen. Ich kann unterscheiden, was mich von mir selbst entfremdet und was mich freier macht, weil es mich näher zu mir führt. Es ist ein ständiger Dialog von innen nach außen und von außen nach innen. In diesem Dialog findet Erneuerung statt: Altes wird verworfen, die Gegenwart erschafft stets Neues. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Bildung: Sie beschreibt einen lebendigen Prozess, etwas Fließendes. Sie erfordert das Zulassen des Unbekannten oder des „Nicht-Wissens“. Die damit verbundene Unsicherheit und Verletzlichkeit willkommen zu heißen bedeutet wirklichen Mut.
  • Bildung des Herzens: Das Beobachten ständiger Veränderung — von Manifestation und Auflösung — wirft zurück, auf das eigene Sein und führt zu Demut. Es lässt dich selbst und den anderen so und da, wo er oder sie gerade ist. Es führt zu echtem Respekt und damit auch zu Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Es sieht nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen: Er oder sie ist ein Spiegel.
  • Leidenschaft und Lebensqualität: Bildung im vorgenannten Sinne hat keine Absicht. Sie hat den Wert in sich selbst, so wie die Liebe. Sie führt zu Ausdehnung und Wachstum. Sie macht reich. Sie macht wach und hat ein unmittelbares Gespür für das, was ihr dient, und das, was sie behindern will. Sie hat den Mut alleine zu sein und doch verbunden zu bleiben. Sie bedeutet Lebensqualität und ein Glück, das bleibt und mit uns wächst.